Résumé: | Die entscheidende Krise des antiken Judentums resultierte aus der Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. Der Tempel war das wohl wichtigste Symbol jüdischer Identität gewesen, er war als Ort der Immanenz Gottes in der Welt gedacht worden und bildete den religiösen Bezugspunkt für Juden in Israel und in der Diaspora. Auch nach seiner Zerstörung blieb er zwar als virtueller »Erinnerungsort« im historischen Gedächtnis des Judentums präsent, doch konnte das jüdische Volk nur überleben, weil es seine Identität darüber hinaus auch an Institutionen und lebendige Traditionen knüpfen konnte, die sich bereits in der Zeit vor der Tempelzerstörung herausgebildet hatten und die eine Überbrückung und Bewältigung des existenziellen Bruches möglich machten. Entscheidend für das Selbstverständnis des sich herausbildenden rabbinischen Judentums war die Überzeugung der spätantiken Rabbinen, sie seien die zeitgenössischen Glieder der rabbinischen Traditionskette, die bis zur Sinaioffenbarung, also auf Mose selbst, zurückgeführt wurde. Als Nachfolger Moses verstanden sich die Rabbinen als zeitgenössische Interpreten der jüdischen Tradition und als Garanten der Aufrechterhaltung der jüdischen Identität, die über den existentiellen Bruch des Jahres 70 hinweg Bestand hatte. Lebensweltliche Diskontinuität konnte jedoch ohne Identitätsverlust nur bewältigt werden, weil in der Erinnerung ein Identitätsbewußtsein generiert und weiterentwickelt wurde, das die Identifikation mit der jüdischen Vergangenheit und Gegenwart ermöglichte, indem die rabbinische Traditionskette als symbolische Klammer zur bestimmenden Form der historischen Erinnerung und der Selbstidentifikation überhöht wurde.
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