Braudel in Algier. Die kolonialen Wurzeln der „Méditerranée“ und der „spatial turn

Auf der Basis neuer Quellen zeigt der Aufsatz, dass Fernand Braudels „La Méditerranée et le monde méditerranéen à l'époque de Philippe II“ (1949/21966) ein Produkt kolonialer und postkolonialer Verflechtungen zwischen Frankreich und Algerien war. Zugleich wird dieser Klassiker der Geschichtssch...

Ausführliche Beschreibung

Bibliographische Detailangaben
Veröffentlicht in:Historische Zeitschrift. - [Berlin] : ˜deœ Gruyter Oldenbourg, 1859. - 303(2016), 1, Seite 1-38
1. Verfasser: Manuel Borutta (VerfasserIn)
Format: Aufsatz
Sprache:English
Veröffentlicht: 2016
Zugriff auf das übergeordnete Werk:Historische Zeitschrift
Schlagworte:Postkolonialismus Historiographie Spatial Turn Algerienpolitik
Beschreibung
Zusammenfassung:Auf der Basis neuer Quellen zeigt der Aufsatz, dass Fernand Braudels „La Méditerranée et le monde méditerranéen à l'époque de Philippe II“ (1949/21966) ein Produkt kolonialer und postkolonialer Verflechtungen zwischen Frankreich und Algerien war. Zugleich wird dieser Klassiker der Geschichtsschreibung in der Debatte um den „spatial turn“ verortet. Zunächst werden die kolonialen Entstehungsbedingungen des Werks beleuchtet: Zwischen 1923 und 1932 arbeitete Braudel als Gymnasiallehrer in Algerien, wo sich seine Vision vom Mittelmeer herausbildete. Im Rückgriff auf die „Schule von Algier“ reproduzierte Braudel in „La Méditerranée“ koloniale Denkfiguren der Zwischenkriegszeit. Gleichzeitig kritisierte er darin implizit den europäischen Kolonialismus, weshalb „La Méditerranée“ zuletzt sogar als antikoloniales Werk gelesen und mit postkolonialen Theorien in Verbindung gebracht worden ist. Allerdings klammerte Braudel ausgerechnet Französisch-Algerien aus seiner Kolonialismuskritik aus. Auch nach der Dekolonisation warb er wiederholt um Verständnis für die französische Algerienpolitik. Erkläret wird diese ambivalente Haltung mit Braudels privaten Verbindungen: Ein Jahr nach seinem Aufenthalt in Nordafrika heiratete er Paule Pradel, eine Tochter europäischer Siedler aus dem algerischen Departement Oran. Ihrer Familie war Braudel eng verbunden. Auch mit seinen ehemaligen Kollegen und Schülern aus Constantine und Algier blieb er bis an sein Lebensende in Kontakt. Wie diesen pieds-noirs erschien Französisch-Algerien Braudel als ein verlorenes Paradies. Die „Méditerranée“ ist daher nicht nur ein wissenschaftliches Werk, sondern auch ein Dokument nostalgischer Erinnerung an ein untergegangenes Imperium. Mit Blick auf die Debatte um den „spatial turn“ erinnert jedoch gerade Braudels Heroisierung des Kampfes europäischer Siedler mit der nordafrikanischen Natur in „La Méditerranée“ daran, dass Räume nicht nur soziale Konstruktionen, sondern auch physische Realitäten sind, die menschliches Handeln beeinflussen. Trotz seines kolonialen bias bleibt Braudels „La Méditerranée“ daher auch für künftige Analysen des Verhältnisses von Raum und Geschichte nützlich. This article explores the colonial roots of Fernand Braudel's „La Méditerranée et le monde méditerranéen à l'époque de Philippe II“ and situates the study within current debates on the spatial turn. First published in 1949, „La Méditerranée“ is still regarded as a manifesto of Mediterranean studies, and as a prelude to the spatial turn. Recently, the work has been criticized as a document of colonialist discourse and –coevally – celebrated as an antecedent of post-colonial thought. The article explains this ambivalence by reconstructing connections of Braudel's academic and private life in Algeria and France between 1923 und 1984. By analyzing his publications on North Africa and the Mediterranean, mostly unknown ego documents, letters, television broadcastings, and oral history interviews with his family relatives, the article shows that „La Méditerranée“ was not only a seminal scholarly work but also a personal expression of post-imperial nostalgia. However, despite its colonial roots, „La Méditerranée“ remains an inspiring text and a powerful reminder of the physical dimension of space that recently has been neglected by some followers of the spatial turn.
ISSN:0018-2613
DOI:10.1515/hzhz-2016-0285